Zu jeder Tasse Kaffee eine Madeleine, mit immer wieder neuen Geschmacksrichtungen. Warum? Schlag nach bei Marcel Proust:


Ganz sicher mag ich nicht uneingeschränkt alles von der „Suche nach der verlorenen Zeit“, im Gegenteil, manche Passagen sind die reine Quälerei. Vor allem in Band 2 („Im Schatten junger Mädchenblüte“), 5 („Die Gefangene“) und 6 („Die Flüchtige“) habe ich mich über lange Strecken regelrecht geärgert über das selbstgefällige Gerede über die Frauen, die er vorgeblich so sehr liebt.
Aber dann wieder solche Juwelen wie die Madeleine-Episode. Oder wenn er über seine Großmutter schreibt, die zu jedem Lebensereignis aus den Briefen der Mme de Sévigné zitieren konnte. Eine meiner Lieblingsstellen aus Band 4, „Sodom und Gomorrha“, ist die Szene im Schloss La Raspelière, wo er über eine ganze Seite das unvorstellbar seltsame, verschobene Gesicht des M. de Cambremer beschreibt, der einen mit seiner Nase anzusehen scheint, und wo er dessen Frau als normannischen Trockenkeks charakterisiert.
Von unserer Reise in die Normandie im Juni dieses Jahres hatte ich an anderer Stelle schon berichtet; bei dieser Gelegenheit haben wir auch Cabourg besucht, dessen Grandhotel die Vorlage bildete für das Hotel in Balbec. Proust ist allgegenwärtig in dieser Gegend. An unserem Urlaubsort nahe Trouville kamen wir bei einem Spaziergang an einem Kirchlein vorbei, das sich seiner Proust-Vergangenheit rühmt:


Nachdem ich also über zwei Jahre hinweg (als Bahnpendler eine leichte Übung) alle sieben Bände durch hatte, ging es mir wie anderen Proust-Fans auch: ich wollte gleich wieder von vorne anfangen. Denn im letzten Band gelingt ihm ein unvergleichlicher Zaubertrick: er knüpft alle losen Fäden aus den sechs anderen Bänden mit einer Leichtigkeit zusammen, die so verblüffend ist, dass man selber nachlesen möchte, warum man da nicht gleich drauf gekommen ist.
Die fantastische Frankfurter Ausgabe von Luzius Keller macht es einem übrigens leicht, Lieblingsstellen wiederzufinden und quälende Passagen auszulassen, da sie im Anhang den ganzen Text in Kapitelchen mit Kurzbeschreibung und Seitenangabe unterteilt hat.

Am Grab von Marcel Proust, Cimetière Père Lachaise, an einem verregneten Montag im Mai 2014