Ave Maria

„Gegrüßet seist du Maria,…“

Jorge murmelte vor sich hin, wie er es immer tat, doch in Pablos Gehirn brandeten die Worte gegen einen Fels aus stummer Wut.

„… voll der Gnade…“

Gnade und Hass, Verzeihen und Zorn, wie sollte er diesen Knoten lösen?

Pablo hing oben unter der Zirkuskuppel, schwang an seinem Trapez, vor und zurück, wartete auf seinen Einsatz. Neben ihm pendelte Jorge, im gleichen Rhythmus, und murmelte unablässig die magischen Worte.

„… du bist gebenedeit unter den Frauen…“

Drüben auf der Plattform stand Claudio, weiß wie die Kreide, mit der er seine Hände bemehlte, damit sie trocken wurden und rau, nicht abglitten an Pablos Händen, damit sie einander greifen und halten konnten, fest und vertraut wie immer. Pablo sah ihm zu, wie er sein Trapez angelte und sich mit den Füßen abdrückte, um Schwung zu holen für seinen Sprung in Pablos Hände.

Pablo ballte diese Hände zu Fäusten. Alles sträubte sich in ihm, die Haare auf seinen Unterarmen wehrten sich gegen das hautenge Trikot. Er wollte sich kratzen, wollte das Trikot herunterreißen, nackt dem Nebenbuhler gegenübertreten und ihn vernichten.

„… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes,…“

Pablo biss die Zähne zusammen. Hier oben zählte keine Mannesehre. Hier zählte nur die Ehre der Artisten. Sie waren eine Gemeinschaft, vor das Publikum traten sie nur gemeinsam, aller Zwist musste unten bleiben. Am Boden. Dort, wo sie sich alle unsicher fühlten, wo sie gingen wie Seemänner an Land, ohne den Schutz des schwankenden Decks.

„… Jesus.“

Er griff zu, und Claudio hing sicher. Dieser Moment, in dem die Schwerelosigkeit sich in ihr Gegenteil verkehrte, in dem der Flieger sich dem Fänger in die Hand gab, das war stärker als jeder Zorn, größer als jeder Hass.

Sie schwangen gemeinsam zurück, gewaltig war der Zug in den Armen, beim zweiten Ausschlag ließ er Claudio los, Claudio flog in langem Bogen, drehte sich in doppelter Schraube und landete sicher wieder an seinem Trapez. Aus dem Augenwinkel nahm Pablo wahr, dass auch Jorges Partner, Benito, seinen Sprung vollendet hatte. Beifall brandete zu ihnen empor. Pablo pendelte aus und zog sich mit einem kräftigen Ruck der Bauchmuskeln hoch auf die Schaukel. Ein kurzer Moment der Entspannung, vor dem nächsten Sprung.

„… bete für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“

Jorge murmelte weiter, ohne Unterbrechung. Der Rosenkranz stand für ihren Zusammenhalt, nichts eignete sich besser für diesen eintönigen Rhythmus, das Fundament ihrer Arbeit. Gleichklang und Harmonie nach außen, mochte es innen auch brodeln vor Kummer und verletztem Stolz.

Ich schaffe es nicht. Ich bin schwach und feige, und Maria ist mein Leben. Der Stolz des Artisten gegen den Stolz des Ehemannes – was soll ich meinem Schöpfer sagen? Wie kann ich Claudio halten, bei dem, was er mir angetan hat?

„Gegrüßet seist du, Maria…“

Maria, Maria. Wenn du geredet hättest. Warum hast du mir nichts gesagt?

Weil ich nicht zugehört hätte. Ich bin ein Fänger, und ich habe die Tochter eines Fängers geheiratet. Wie konnte sie sich mit einem Flieger einlassen?

„… voll der Gnade…“

Es gibt keine Gnade, und es gibt keine Ehre. Keine, die größer ist als die Ehre des Mannes. Zum Teufel mit der Gemeinschaft. Claudio hat sie zerstört, warum soll ich den Schein wahren? Was soll mein Leben als Fänger, wenn ich als Mann verloren habe?

„… ist die Frucht deines Leibes…“

Ich lasse ihn los.

„…Jesus.“

Pablo ließ nicht los. Auch diesmal nicht. Obwohl er zitterte, obwohl das Trikot rieb und scheuerte, die Knie der Anspannung kaum standhielten, der Kopf dröhnte von Jorges Gemurmel.

Jorge, schweig endlich! Ich werde wahnsinnig. So muss es sich anfühlen, wenn man durchdreht. Panik. Ich darf nicht in Panik geraten, beim nächsten Sprung kommt Ana. Sie ist halb so schwer wie Claudio, ich muss mich darauf einstellen, ich darf nicht zu weit zurückschwingen, sonst reißt uns die Fliehkraft beide nach unten.

Er hielt auch Ana, sicher und ruhiger als Claudio vorher. Ana, die heute für Maria sprang, weil Maria krank im Wohnwagen lag. Ein zerschlagenes Gesicht eignete sich nicht für den Auftritt in der Manege, die so winzig war von hier oben, so klein wie ein Rosenkranz. Sogar hier noch konnte er das Sägemehl riechen, die Pferde, die vor ihnen aufgetreten waren. Selina dressierte die Pferde, sie hatte Claudio abgewiesen. Da hatte er sich an Maria herangemacht. An Maria, die Frau seines Fängers. Abschaum war er, nicht wert, gehalten zu werden.

Aber die Ehre, die Ehre des Artisten. Der Fänger stand über dem Flieger, obwohl er in den Augen der Zuschauer nur eine passive Rolle spielte. Beim Zirkus kannte jeder die Regeln: geachtet wurde, wer die Fäden zog.

„… jetzt und in der Stunde unseres Todes.“

Die Stunde des Todes: Wer bestimmte darüber? War sie nicht einfach gekommen für Claudio? Konnte irgend jemand über Pablo richten, nach all den Ave Marias, die sie in ihrem Leben gebetet hatten, hatten sie nicht die Absolution für alle Zeit?

Claudio sah müde aus, als er jetzt wieder nach seinem Trapez angelte, das konnte Pablo selbst aus der Entfernung sehen. Er und Jorge pendelten pausenlos vor und zurück, immer nach dem Rhythmus der Litanei, während Claudio und Benito zum letzten Sprung ansetzten. Wie ein Sack Mehl hing Claudio. Erbärmlich.

„Gegrüßet seist du, Maria…“

Maria. Meine Maria. Die Litanei tat ihre Wirkung, Pablo spürte seine Kraft zurückkehren. Die Gemeinschaft, sie zählte. Nur sie und Maria. Wenn Claudio ein Dummkopf sein wollte, dann sollte er. War nicht das die wirkliche Ehre? Größer zu sein als der Feind? Die andere Wange hinhalten?

Ich halte ihn.

„…voll der Gnade…“

Ich verzeihe ihm.

„Du bist gebenedeit unter den Frauen…“

Ich bin frei.

„… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes,…“

Wie sieht er nur aus? Er schwitzt. Seine Augen glänzen. Er wird abrutschen. Wenn seine Hände so schwitzen wie sein Gesicht, wird er…

„… Jesus.“

Claudio kam geflogen, Pablo griff zu, die Hände schwitzten, kreidebeschmiert, wie Öl, wie flüssiges Wachs, er glitt ab, o Gott, Claudio, bleib hier, Claudio glitt ab. Einen Moment trafen sich ihre Blicke: die Augen von Claudio weit aufgerissen, reine Angst, kein Flehen, nur Angst. Dann stürzte er in die Tiefe.

„… bete für uns…“

©Kirsten Ranft