Prolog

Seit Stunden radelten wir über grobe, ausgefahrene Feldwege. Bei jedem Schlagloch schmerzte mein Hinterteil, und mein Gesicht fühlte sich an wie zementiert unter einer Schicht von Staub und Schweiß.

Ich wollte nicht mehr. Die Sonne brannte, die Knie schmerzten, die Kehle war ausgedörrt. Siggi dagegen ließ keine Ermüdungserscheinungen erkennen. Gutgelaunt fuhr er vor mir her und ließ seine Ärmel im Wind flattern, wenn er die Arme ausbreitete und, leicht nach rechts kippend, die Balance zu halten versuchte.

Solche Späße konnten meine Laune nicht mehr verschlechtern. „Lass uns umkehren!“, schrie es aus mir, stumm, zu keinem Wort war ich mehr fähig. „Du Quälgeist! Am See könnten wir liegen, uns gegenseitig mit eiskaltem Wasser begießen, Erdbeeren essen, dass der Saft die Mundwinkel herunter läuft…“

„He, Süße! Du machst doch nicht etwa schlapp, oder?“ Auf einmal war er neben mir, der Quälgeist, seine Hand auf meinem klatschnassen Rücken, sein lachendes Gesicht ein einziges Herz.

„Komm, noch die Kurve da vorne. Dann machen wir eine Pause.“

„Ich will keine Pause! Ich will ein Ende! Nie wieder ein Fahrrad, nie mehr solche Tortur. Morgen, das schwöre ich, liege ich den ganzen Tag am Strand. Und im Wasser. Immer abwechselnd.“

Siggi lachte, gab mir noch einen Schubs und radelte wieder voraus. Im nächsten Moment war er verschwunden.

Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und den Hintern aus dem Sattel. Stehend radelte ich um die Kurve.

Von Siggi keine Spur. Dafür ein Haus. Ein Gutshaus.

Ich stolperte vom Fahrrad, ließ es ins Gras fallen. Ich stand und staunte. Mein Traumhaus! Völlig verwahrlost, leider. Aber schön!

Wie ein schlafender Riese aus Backstein lag es vor mir, ausgebreitet in der Sonne, als wartete es auf das Leben, das einst in ihm getobt hatte. Das Reetdach hing traurig wie eine ausgefranste Ponyfrisur herunter; die Scheuneneinfahrt öffnete den Blick in den zahnlosen Schlund des Riesen. Aus allen Mauerritzen wucherte Engelwurz und Löwenzahn, zerbrochene Scheiben und geborstene Läden verunstalteten die blinden Fenster.

Siggi war vergessen. Ich nahm die Kamera aus dem Fahrradkorb und knipste. Mit dem Apparat im Anschlag schlich ich um meinen Gutshof, mannshoch standen Gräser und Gestrüpp. Brombeerdornen, die mir die Beine aufrissen, Brennesseln, die mich zwickten, Mücken, die mir die Arme zerstachen: das stachelte mich nur noch mehr an.

Ich brach durch die Büsche an der Rückseite und stand in der Dämmerung. Mehr noch: es war fast dunkel. Dafür war das Gebäude hell erleuchtet. Nicht allein durch das hohe, lodernde Feuer im Park, auch alle Fenster strahlten im Lichterglanz.

Ein Fest war im Gange. Die Veranda war voll mit Menschen.

Ich schob mich zurück durch die Hecke: heller Sonnenschein. Eine trostlose Wiese, Bruchstücke von etwas, das vielleicht einmal ein Stall gewesen war.

Ich wandte mich um: Abendstimmung, ein loderndes Feuer, Menschen auf der Veranda.

Ich hob wieder die Kamera, wollte aufnehmen, was sich da vor mir abspielte: Nichts davon war durch den Sucher zu erkennen. Nur ein halbverfallenes Gutshaus mit kaputten Fenstern und losen Steinen im Gemäuer. Im gleißenden Sonnenlicht.

„Anna, Liebes, spiel uns doch etwas vor!“ Die Stimme gehörte einer jungen Frau, die so etwas wie die gute Seele der Truppe zu sein schien. Chefin ohne Mandat, aber in stiller Übereinkunft. So wirkte sie auf mich. Sie war ein bisschen pummelig, mit einer winzigen Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Ein bildhübsches Gesicht, freundlich und warmherzig.

Ich nannte sie Paula.

Die Frau, die sie angesprochen hatte, verschwand im Haus und kehrte mit einem Cello zurück. Alle klatschten. Anna setzte sich auf einen Schemel, stemmte das Cello zwischen ihre mageren Beine, die unter dem blauen Rock hervorsahen, und spielte.

Ich hätte heulen mögen. Von klassischer Musik verstand ich rein gar nichts, aber das hier, das war überirdisch. Nur ein einziges Cello, und trotzdem war mir, als hörte ich ein ganzes Orchester. Waren das nicht Bläser, im Hintergrund? Jetzt noch die Geigen, und hier und da der leise Klang einer Triangel.

Die Gestalten auf der Veranda standen regungslos. Ich hatte Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten: der Film stoppte, als wäre Dornröschen in ihren hundertjährigen Schlaf gefallen.

Ein großer, dünner Blonder, der etwas Asketisches an sich hatte, stand neben der Frau, die ich Paula getauft hatte. Dann eine zierliche kleine Kindfrau mit einer Baskenmütze auf dem Kopf; ein junger Mann, der zwischen ihr und einem anderen jungen Mann saß und sich offensichtlich nicht zwischen den beiden entscheiden konnte. Ein Dutzend weitere Figuren.

Auf langen Tischen, die mit weißen Tüchern bedeckt waren, standen Schüsseln mit Salat und Früchten, mit schwarzem Brot und saftigroten Tomaten, in der Mitte eine riesige Pfanne mit geschmorten Pilzen. Dazu Krüge mit kalten Getränken.

Es wirkte mittelalterlich, und doch war es mitten im Hier und Jetzt. Eine Kommune auf dem Grund von altem Adel. Sie sahen aus, als hätten sie eine erstaunliche Leistung vollbracht, und so war es ja auch: Sie hatten diesen Haufen alter Steine renoviert und in Ordnung gebracht. Sie waren stolz und glücklich.

Annas Spiel dauerte an, und es war, als spielte sie in Zeitlupe, damit ich das Bild in aller Ruhe in mich aufnehmen konnte. Ihr rechter Arm bewegte sich wie eine Pleuelstange: gleichmäßig vor und zurück, im Takt der Musik, als bediente sie eine Art Drehorgel.

Ein Schatten legte sich über die Szene und verdunkelte sie, als drohte eine unbestimmte Gefahr. Ich versuchte zu erkennen, von wem sie ausging: von einer der Personen auf der Veranda?, aus dem Hintergrund?, ich wollte näher herantreten, da legten sich zwei nasse Arme um mich.

Ich schrie auf.

„Hey, Süße! Was stehst du hier herum vor dem alten Kasten und staunst Bauklötze?“

Siggi! Nackt und nass.

Wo kam denn Siggi jetzt auf einmal her? Und noch dazu nass?

„Wo kommst du denn jetzt her? Und wieso unterbrichst du sie?“ Ich wies mit der ausgestreckten Hand zur Veranda, auf Anna, und sah Siggi dabei ins Gesicht, denn ich wusste, was sein spöttischer Blick mir sagen würde: Da war nichts.

Er folgte meiner Hand, er sah mir in die Augen, sein Kopf bewegte sich hin und her wie eben noch Annas Bogen.

„Sie? Hast du vielleicht einen Sonnenstich? Da ist niemand, Süße!“

Ich blickte traurig hinüber zum Haus. „Aber da war eben…“

Siggi nahm meine Hand und zog mich mit sich, wollte nicht hören, was da eben war. Zog mich dorthin, wo er so plötzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war: Ein See. Ein Teich eher. Aber Wasser.

„Komm, zieh dich aus! Spring rein!“

Ich zog mich aus, wir sprangen rein und schwammen und prusteten, und ich konnte nur an eines denken: an den Schatten, der auf die Veranda gefallen war. Ich musste etwas unternehmen, musste die Gefahr abwenden. Und weil ich außer Schreiben weiter nichts konnte, lag die Lösung auf der Hand.

Als ich später wieder hinter Siggi her radelte, verteilte ich bereits Rollen und Namen an meine Hauptfiguren.