Der Sekundenzeiger lief über den Minutenzeiger hinweg, der genau über dem Stundenzeiger stand.
Das Gurren der Tauben verstummte.
Es war mäusmuckschenstill.
Dann schlug die Turmuhr. Mitternacht.
Bertram de Groot van Leeuwen saß mit fest geschlossenen Augen hoch droben im Glockenturm des alten Herrenhauses und wartete, bis der letzte Glockenschlag verklungen war. Vorsichtig öffnete er ein Auge. Dann das andere. Er blinzelte noch einmal und blickte hinein in den Spiegel, der drei Schritte von ihm entfernt neben dem Taubenverschlag lehnte.
Ein riesiger Spiegel, drei Meter hoch und goldgerahmt. Getragen wurde er von einem Teufelswesen mit grimmiger Fratze und Geierfüßen; oben in der Mitte schmückte ihn ein Puttengesicht, das liebevoll zum Betrachter hinunter schaute.
Was Bertram de Groot beim hellen Mondlicht im Spiegel erkannte, ließ sein Herz hüpfen, so dass er augenblicklich die Augen wieder zumachte. Er fürchtete um sein schwaches Herz.
Ein Mäuschen huschte über den Dielenboden und veranlasste Bertram, die Augen aufzuschlagen. Noch immer zeigte der Spiegel dasselbe Bild: Einen hochgewachsenen, schlanken Aristokraten mit goldgelocktem Haar und einem verwegenen Schnauzbart.
Der Traum aller Märchenmütter und Schwiegerprinzessinnen. Ein Bild, das für die Ewigkeit festgehalten werden musste. Ein Selbstporträt, das seinen Ruhm verewigen würde.
‚Ein junger Schmückling’, dachte Bertram anerkennend. ‚Ein recker Kühn.’
Er machte sich ans Werk. Vor ihm stand die Staffelei, nicht hoch, seiner Größe angepasst. Das Mondlicht fiel über seine rechte Schulter ins Zimmer. In der Linken hielt er die Farbpalette, auf der sich alle Regen des Farbenbogens ineinander mischten. Er ließ keinen Blick von seinem Spiegelbild, das den Spiegel zu zwei Dritteln in der Höhe füllte. Ein Adliger, stehend, das Gewicht auf dem linken Fuß, den rechten ein wenig vorgestreckt. Die rechte Hand hatte er in die Seite gestemmt, die linke stützte sich auf einen hüfthohen Säbel, der Blick schien in weite Ferne entrückt und traf sich doch mit dem Auge des Betrachters.
Die Gemälde des Bertram de Groot van Leeuwen wurden in die gesamte bekannte Welt verkauft. Sie spiegelten sein Innenleben, sie spielten mit Farben, die kein anderer Künstler nachahmen konnte. Diese Farben waren sein Geheimnis: Er verteilte sie auf seiner Palette, dass sie ineinander liefen und tippte dann scheinbar wahllos mit seinem Pinsel hinein. Daraus entstanden Landschaften, Wasserfälle und Obstkörbe, die einer anderen Welt zu entstammen schienen. Nie ließ sich klar entscheiden, ob ein Apfel grün oder rot war, er war einfach zum Hineinbeißen.
Sein zweites Geheimnis bestand darin, dass er nicht aufs Bild schaute, wenn er malte. Er sah, was er malte, und er malte, was er empfand. Erst wenn seine Energie erschöpft war, betrachtete er das Ergebnis, und dann wurde kein Pinselstrich mehr verändert.
So tat er auch jetzt. Von den goldenen Locken des Jünglings arbeitete er sich nach unten vor. Die stolze Nase, der zärtliche Mund, das mattgrüne Wams: alles wurde eins zu eins auf die Leinwand übertragen, und er wusste instinktiv, wo die goldenen Knöpfe des Wamses hingehörten, ohne hinschauen zu müssen.
Das Funkeln der Gürtelschnalle konnte er ebenso wiedergeben wie den weichen Fluss des Mantels, der dem Spiegelbild von der Schulter fiel. Einzig der linke Schuh bereitete ihm ein wenig Mühe, da er vom Schatten der Staffelei fast verborgen wurde.
‚Mondgerassel im Säbelschein, Puttengebein, Fratzengesicht, du schreckst mich nicht, du Geierfuß.’ Wenn er malte, verdrehten sich die Wörter in seinem Kopf, wurden zu Farbpigmenten, die sich nach den unterschiedlichsten Schattierungen neu zusammensetzen ließen. Kaleidoskope im Kopf.
Die Uhr schlug viertel vor eins, nur noch wenig Zeit, das Selbstbildnis zu vollenden. Aber es blieb auch nicht mehr viel zu tun: allein das Gesicht, vielmehr dessen Ausdruck galt es noch zu vervollkommnen. Er hatte ja alles heruntergemalt, vom Haupt bis zu den Füßen, jetzt musste er noch den kühnen Blick, das warmherzige Auge des jungen Adligen wiedergeben, um für alle Zeit der Menschheit sein Wesen zu vererben: nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein großer Mann, der die Schönheit, die er selbst verkörperte, großmütig in Öl auf Leinwand verewigte.
Bertram ließ den Pinsel sinken. Es gelang nicht. Der Blick aus dem Spiegel zeigte nicht die leiseste Regung. Keinerlei Kühnheit sprach daraus, keine Großherzigkeit, erst recht keine Wärme. Der Jüngling starrte. Er sah – dumm aus. Dumm und einfältig, dabei grenzenlos hochmütig.
Bertram schluckte Tränen. Er wollte verzweifeln, die Uhr tickte unaufhaltsam auf das Ende der Geisterstunde zu. Der Mond würde weiterwandern, das Licht würde nachlassen, der Zauber erlöschen. Hektisch tanzte Bertrams Pinsel dort herum, wo das Gesicht sein musste. Sein Bild, sein Porträt, es musste fertig werden, er konnte kein solches Abbild von sich hinterlassen. Aber der Gesichtsausdruck wollte und wollte nicht gelingen, das Spiegelbild wurde immer grotesker: die Arme zu lang, der Körper verwachsen und schwerfällig, der linke Fuß, halbverborgen im Schatten der Staffelei, ein Klumpfuß. Nur knapp die Hälfte des Spiegels füllte der alternde Jüngling noch aus, in der Höhe.
Die Uhr schlug eins.
Das Gurren der Tauben setzte wieder ein, das Mäuschen lief erneut über den Dielenboden, verharrte vor der Staffelei und richtete sich auf, als wollte es das Bild betrachten, das Bertram gemalt hatte.
Er selbst versank in dumpfer Trauer. Er wagte nicht, aufzublicken und zu sehen, was er doch sehen musste: einen buckligen alten Mann mit einem Klumpfuß. Keine strahlende Schönheit, kein Traum aller Schwiegermütter. Eher ein Alptraum, der zurückgezogen in diesem alten Gemäuer hauste und seine eigene Hässlichkeit in traumartige Bilder verwandelte.
Das Fiepen des Mäuschens veranlasste ihn, doch wieder die Augen zu öffnen. Er wusste, was ihn erwartete, noch bevor er das Bild genauer ansah: ein perfektes Selbstbildnis. Jedes Detail bis zur Besessenheit ausgestaltet. Ein Monument der Hässlichkeit, in atemberaubenden Farben.
Grimmer Zorn spülte die Tränen fort, an denen er schluckte. Er hob seine Palette und wollte sie auf die Leinwand stülpen, mit allen Farben in seinem Unebenbild herumschmieren, die Schmach austilgen.
Doch er hielt inne. Er sah genauer hin, grub sich in das Bild, fand schließlich, was ihn in die Herzen der Nachwelt tragen würde.
Der alte Krüppel auf dem Bild: er hatte, was dem Helden im Spiegel gefehlt hatte. Den Blick, der ihn zum Menschen formte. Ein stilles Lächeln, das aus den Augen glänzte und sich in den Mundwinkeln spiegelte. Ein Blick voller Wärme und Gelassenheit.
Bertram de Groot van Leeuwen hatte sein Selbstporträt vollendet, und er staunte über das, was er sah. Er fürchtete keinen Kritiker.
Als er aufstand, merkte er, wie seine Beine vor Erschöpfung zitterten. Er nahm eine Plane, deckte sie über das Bild und humpelte die Treppen des Glockenturms hinunter.
‚Du brummer Graubär’, dachte er, als er die Bettdecke über sich zog. ‚Du junger Schmückling.’
©Kirsten Ranft
Wie schaffst Du es nur, auch noch solche wunderbaren Geschichten zu schreiben? Es ist vorzüglicher Erzählstoff für Vorlesestunden im Café.
Sobald die Temperaturen es zulassen, werde ich Euch einen Besuch abstatten, aber meine Klimaanlagen im Auto ist kaputt und kann nicht mehr repariert werden und da vermeide ich im Moment jede Fahrt, die nicht unbedingt notwendig ist.
Ich bin schon sehr neugierig!
Lieber Gruß aus Hanau, Karin
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Ach, vielen Dank, liebe Karin! Die Geschichten hatten ihre Zeit, dann kam die Alte Apotheke dazwischen. Vielleicht komme ich jetzt wieder öfter zum Schreiben.
Freu mich auf deinen ersten Besuch!
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hervorragend. und man kann mal wieder sehen:
wahn und wirklichkeit sind ebenso nahe verwandte wie fantasie und illusion.
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Hallo Kirsten – toll, toll, toll. Ein „junger Schmückling“ und ein „recker Kühn“, das muss Dir erstmal jemand nachmachen. Die Idee mit den Wortverbindungsauswechslungswahnvorstellungsgewohnheit Deiner Hauptperson finde ich genial. Bitte mehr sowas!
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☺️😀
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