Mehr Abschied war nie.
Mutter küsste Vater, mein Bruder Richard reichte mir die Hand, seine Frau Sandra umarmte meine Mutter, und dazwischen plärrte ihr Sohn Philipp, der sein Breichen haben wollte.
Am Ende wusste keiner mehr, wer wegfuhr und wer bleiben musste.
Nur ich wusste es. Denn wie immer blieb alles an mir hängen.
Mutter fuhr mit Richard, Sandra und Philipp an den Wörther See. Ich blieb zuhause und durfte mich um Vater kümmern. Seine Wäsche waschen, seine Einlagen wechseln, seine Tränen trocknen. Den Spinat auftauen, die Eier quirlen, die Fischstäbchen schwarz braten. Seine Wunderlichkeiten ertragen – angewärmtes Bier und krümelige Kekse – und ihm aus der Zeitung vorlesen. Meine einzige Hilfe war Hanno, unser Zivi, der dreimal die Woche kommen würde, fürs Gröbere.
Man pfiff zur Abfahrt, und die drei stellten sich ans Abteilfenster. Winkparade.
Wir standen am Bahnsteig, Vater und ich – was blieb ihm auch anderes übrig –, und winkten zurück. Richard rückte seine Brille zurecht und sah aus wie der Herr Studienrat, der er in zwanzig Jahren sein würde. Sandra war hinter Klein-Philipp nicht zu sehen, weil sie ihn in die Höhe hielt wie einen Wanderpokal. Mutter schwenkte ein Taschentuch hinter Richards breitem Rücken hervor.
Schließlich packte ich den Rollstuhl an beiden Griffen und schob Vater über die Rampe in die Bahnhofshalle. Ein Ball rollte ihm vor die Räder und er brummte. Ich ließ die Griffe los und machte einen Schritt zur Seite, um mir den Ball zu schnappen, und Vater rollte rückwärts davon.
Gerade noch konnte ihn ein junger Mann aufhalten, der von irgendwoher auftauchte. Vielleicht hatte er jemanden zum Zug gebracht, oder er kam einfach zufällig vorbei, um meinen Vater aufzuhalten. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht gab er ihn mir zurück.
Ich grinste zurück und schob Vater erneut über die Rampe. Jemand rammte uns beinahe mit einem Gepäckwagen, und Vater brüllte herum.
„Vater, bitte!“ sagte ich so leise wie möglich. Ich musste zusehen, dass ich durch diese Bahnhofshalle hindurch kam. Am jenseitigen Ausgang wartete der Transporter. In den musste ich Vater verladen wie einen Sack Mehl; früher hatte der Transporter einem Müller gehört. Ich fand das witzig. Richard nannte meinen Humor außerirdisch.
Wir schoben uns langsam durch die Halle, rechts und links stießen mich vorbeieilende Reisende an, manche stolperten über Vaters vorgestreckten rechten Fuß. Der lag in einer Gipsschiene, weil Richard den alten Herrn kürzlich hatte fallen lassen, als er ihn durch die Diele zur Toilette trug. Er sagte hinterher, er sei über einen Putzeimer gestolpert, den ich hatte herumstehen lassen.
Vaters Bein war also vergipst und stand vor wie eine Haubitze, mit der er seine Feinde niederstrecken wollte. Ein Feind war ein jeder. Mutter, Richard, Sandra. Und allen voran natürlich ich.
Endlich erreichten wir den Transporter und ich öffnete die Seitentür, um Vater wiederum über eine Rampe hineinzurollen. Das war mühsam und kostete jedes Mal meine ganze Kraft. Mit Vaters Haubitze war es noch schwieriger, und ich verfluchte innerlich meinen Bruder Richard und alle Putzeimer dieser Welt.
Hinter mir eine Stimme. Ich spürte, wie ich rot wurde, noch bevor ich ihn überhaupt angesehen hatte, den jungen Mann, der mir meinen Vater auf dem Bahnsteig ausgehändigt hatte. Ich schob es auf die Anstrengung und drehte mich um.
„Ach, danke, es geht schon. Machen Sie sich keine Mühe. Das ist meine Neun-Uhr-Gymnastik.“ Mit diesen Worten wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu.
Der Mensch lachte. Er trug eine kleine runde Brille, nicht so ein Wichtiggestell wie Richard, eher etwas Sympathisches. Anstatt die Gläser mit einer Handbewegung zurechtzurücken, wie alle Brillenträger das tun, krauste er ganz kurz seine Nase, wie ein Kaninchen, und das Gestell rutschte an seinen Platz zurück. Das war das Niedlichste, was ich jemals gesehen hatte. Ich ließ die Griffe los.
Ein Schrei, der wohl mein eigener sein musste: Vater war auf mich herabgerollt und hatte mich schmerzhaft am Knie getroffen. Ich kippte um.
Brille schob Vater zur Seite und stellte ihn unter dem Schild ‚Nur für Rollstuhlfahrer’ ab. Dann reichte er mir seine warmen Hände und zog mich auf die Füße. Ich kippte direkt wieder, aber diesmal nach vorne und an seine Brust. Seine starke Brust, die mich beschützen würde vor Mutter, vor Richard, vor Sandra, und die vielleicht die Mauern um mein Herz ersetzen konnte.
Nein, Gerlinde. Kneif dich, wach auf; diese Brust ist gar nicht da; was dir die Sicht versperrt, ist der Rücken deines alten Vaters, den du in den Transporter schieben möchtest.
Es ist nicht Vaters Rücken. Es ist die Brust von Brille, und er hält mich, und ich weine. Mein Knie tut weh. Ich bin eine dumme Gans. Aber er hält mich.
Vater steht unter seinem Schild und sieht uns zu, und ich möchte ihn in die Arme nehmen und auf die Füße stellen und ihn gehen lehren. Ich möchte, dass er den Transporter steuert und uns ans Meer fährt, weg vom Wörther See. Weit weg von den anderen, denn er ist jetzt unser Komplize.
„Ich heiße Gerold“, sagt Brille, und ich sage: „Ich dich auch.“
Wir gehen Hand in Hand, und Vater sieht uns nach.
Bis gleich, Vater. Nur bis zur Ecke, dann komme ich wieder. Dann fahre ich dich nach Hause.