Drei Männer wanderten hintereinander ins Watt. Gleich einer Prozession, bildeten sie eine schwankende schwarze Reihe, die vom größten der drei angeführt und vom kleinsten beschlossen wurde.
Der Große blieb stehen und blickte um sich. Endlos breitete sich die graue Fläche vor ihm aus, das Meer hatte sich weit zurückgezogen.
„Was ist?“ rief der Kleine, der fast auf den Mittleren aufgelaufen wäre.
„Nichts. Ich schaue nur.“ Der Große trug einen länglichen Kasten, den er jetzt neben sich ins Watt stellte.
„Alf? Was machst du denn? Willst du das Instrument hier lassen?“
Alf machte sich an dem Kasten zu schaffen. „Das Instrument nicht. Nur den Kasten.“ Er packte ein Altsaxophon aus, setzte es zusammen, blies ein paar Töne in den grauen Himmel.
„Gute Idee“, ließ sich nun zum ersten Mal der Mittlere vernehmen. „Die werden uns später nur hinderlich sein.“
Er stellte ebenfalls einen schwarzen Kasten ab, den er in der Hand getragen hatte. Darin verbarg sich eine Trompete. Selbst in den wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch den Dunst am Himmel kämpften, glänzte sie und verbreitete so etwas wie gute Laune.
Der Kleine, der am schwersten zu schleppen hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und packte seinen Kontrabass aus.
„Ihr habt gut lachen, ihr zwei. Tommy mit der Trompete, Alf mit dem Altsaxophon. Und ich? Kurtchen mit dem Kontrabass? Wie soll ich denn dieses gute Stück kilometerweit da hinaus schleppen?“
„Wir können uns ja abwechseln.“ Alf war nicht aus der Ruhe zu bringen.
Tom spielte ein paar Töne auf der Trompete, und sofort schien das Watt zu swingen. „Was haltet ihr davon, wenn wir zuerst noch eine Runde auf dem Trockenen spielen? Nur so, als Generalprobe.“
Kurtchen nickte, jede Pause kam ihm gerade recht. Es war nicht warm an diesem diesigen Märztag, aber bei seiner Statur und mit dem Kontrabass unter dem Arm, da lief der Schweiß in den Kragen und über die Stirn, und die Puste blieb weg. Die schwarzen Anzüge samt Krawatte trugen auch nicht zum Wohlbefinden bei.
Der Bass war schnell gestimmt, der Bogen gespannt und eingerieben, so dass er leicht und geschmeidig über die Saiten strich.
Kurtchen zupfte ein paar Töne in G-Dur, und Tom ging sofort darauf ein. „Ginger meets Fred“, eine Nummer, die sie seit Jahren drauf hatten. Alf brauchte wie immer am längsten, Spontaneität war seine Stärke nicht, und das ausgerechnet in einer Jazzkapelle.
Sie standen mitten im Watt, weit und breit keine Menschenseele, die Sonne über ihnen ein trüber kleiner Ball, dessen Ränder vom Dunst verwischt wurden, und sie spielten, als müssten sie sich das nächste Bier verdienen. Alf ließ ein Solo in die Lüfte steigen, so intensiv, dass die beiden anderen still wurden.
Dann verstummte auch das Altsaxophon, die drei Männer sahen sich an. Ohne ein Wort zu sagen stapften sie weiter ins Watt hinaus, der Flut entgegen.
Jetzt gingen sie nebeneinander, Kurtchen in der Mitte, so dass die anderen ihm ab und zu mit dem schweren Kontrabass helfen konnten. Trotzdem kamen sie nur langsam voran.
„Es war eine angemessene Beerdigung, findet ihr nicht?“ Kurtchen fand als erster den Mut. Oder konnte einfach nur die Klappe nicht halten. Musste reden, um zu begreifen. Um zu vergessen.
„Angemessen. Was ist schon angemessen. Eine Beerdigung ist eine Beerdigung.“ Alf brummte mürrisch.
„Habt ihr Tilly gesehen? Blond wie eh und je, aber ansonsten schon ganz schön hinüber. Wenn ich an ihren festen Hintern denke, wie sie vor dreißig Jahren auf den Tischen getanzt hat.“
„Tom, du wirst selbst auf dem Totenbett nur an Frauen denken. Tilly ist mindestens sechzig. Und damit ist sie immer noch ein junges Ding, verglichen mit dir.“
Tom wollte aufbrausen und wurde von Alf unterbrochen.
„Tilly hat immer nur Danny geliebt.“
Der Tonfall, mit dem Alf diese Wahrheit verkündete, verbot jeden Einwand. Die Sonne schien sich noch weiter hinter die Dunstglocke zurückzuziehen, das Grau des Watts war vom Grau des Himmels kaum zu unterscheiden.
Wieder blieb Alf stehen. Er bückte sich, zog die schwarzen Schuhe aus, die grauen Socken, rollte die Hosenbeine ein Stück nach oben, so dass seine mageren Knöchel sichtbar wurden.
Tom und Kurtchen sahen ihm zu. „Alf, es geht am Ende sowieso alles unter, du brauchst die Schuhe nicht zu retten.“
Alf warf Kurtchen einen Blick zu, unter dem jener die Augen abwandte. „Es ist aber bequemer zu laufen.“
„Ja“, Tom stimmte ihm zu, begann ebenfalls, sich der Fußbekleidung zu entledigen, „und es hat etwas Melancholisches. Das gefällt mir.“
Kurtchen seufzte, beugte sich der Mehrheit. Er lehnte den Bass an Tommys Rücken und musste in die Hocke gehen, um an seinem dicken Bauch vorbei die Schuhe ausziehen zu können.
Sie gingen weiter. Zurück blieben drei Paar schwarze Schuhe, in denen drei Paar graue Socken steckten, ein großes, ein mittleres, ein kleines.
„Mir ist warm“, sagte Tom nach einer Weile. Inzwischen mochten sie schon fast einen halben Kilometer ins Watt hineingelaufen sein. Der Sand war nicht mehr so trocken wie am Ufer, es patschte bei jedem Schritt.
Wie auf Kommando lockerten alle drei die Krawatte, Alf zog das Jackett aus, hängte es sich über die Schulter.
„Wisst ihr, worüber ich mich gewundert habe? Über all die Blumen. Wo kamen all die Blumen her? War doch kaum jemand auf der Beerdingung. Der Pfarrer, Dannys Schwester, Tilly und wir. Und dann so viele Blumen?“
„Die waren von den Hotels. Ist doch klar. Hättest halt die Karten lesen müssen.“ Tom hatte die Karten gelesen. „Jedes Hotel aus jedem Kurbad, in dem Danny gespielt hat. Jeder Schuppen, in dem wir aufgetreten sind. Das gehört sich so. Das machen die immer.“
„Bei dir hätten sie’s nicht gemacht.“ Alf brummte wieder.
Diesmal war er zu weit gegangen. Kurtchen baute sich vor ihm auf, rammte den Dorn seines Basses in den festen grauen Sand.
„Alf, ob du es glaubst oder nicht, wir sind auch traurig, Tommy und ich. Und wir wissen auch nicht, was werden soll. Und wir haben alle zusammen beschlossen, das hier zu Ende zu bringen. Aber gestatte uns doch bitte, dass wir uns vorher noch ein wenig unterhalten. So, wie wir es immer getan haben. Als wir noch ein Schlagzeug hatten.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, und nutzte dann die Gelegenheit, ebenfalls sein Jackett auszuziehen. Anders als Alf ließ er es gleich an Ort und Stelle ins Watt fallen.
Ein paar Krebse rannten hin und her.
Tom sprang zur Seite.
Alf schaute hinaus aufs Meer.
Kurtchen griff seinen Bass und stapfte weiter.
Alf und Tom sahen sich an, Tom zuckte die Achseln und folgte Kurtchen.
„Also gut, es tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint.“ Alf spielte ein paar Tonleitern auf seinem Saxophon.
Tom blieb stehen. „Ist das hier nicht schon weit genug draußen? Wann kommt denn die Flut? Da hinten ist doch schon wieder Meer, oder nicht?“
Kurtchen pflanzte seinen Bass auf. „Ja, das ist ein gutes Plätzchen. Gut zum Spielen, gut zum Sterben.“
Sie stellten sich in Positur, den Blick zum Ufer gewandt, und legten los. Die ganze Palette, das komplette Repertoire. In vierzig Jahren aufgebaut, umgestellt, neu interpretiert. Glenn Miller, Chet Baker, George Gershwin. Die Nordsee hinauf und die Ostsee hinunter, hießen sie nur ‚Die Band’. Zuletzt auch auf Rügen, auf Usedom. Alf am Altsaxophon, Kurtchen am Kontrabass, Tom an der Trompete, Danny an den Drums.
Nur hatten sie Danny heute begraben.
Es klang jämmerlich ohne Schlagzeug.
Tom setzte die Trompete ab. „Scheiße.“
„Spiel weiter“, sagte Kurtchen, der als einziger auch beim Spielen reden konnte. „Jetzt kommt dein Solo.“
Tom setzte die Trompete an. Er spielte sein Solo, auch wenn er den Einsatz nicht richtig erwischte, denn der Einsatz, das war immer ein ausklingender Wirbel auf dem Becken gewesen. Mit den Besen. Tom spielte mit Tränen in den Augen.
Dann kam die Flut. Alf sah sie als erster. Ganz weit hinten sah er das Meer mehr werden. Irgendwie hatten sie sich verschätzt. Sie hatten geglaubt, das mit der Flut würde sich über Stunden hinziehen. Doch schon sanken die Füße tiefer in den weicher werdenden Sand.
„Wieso eigentlich Niebüll?“ Kurtchen musste wie immer als erster das Schweigen unterbrechen. Schon umspülte das Wasser ihre Knöchel.
„Weil Danny einen Narren an Emil Nolde gefressen hatte“, erklärte Tom, „vielmehr an seinen Bildern.“
Alf blickte in die Ferne. „Danny war ein Künstler. Der einzige unter uns, ein richtiger Künstler. Wir drei waren nur sein Mehr an Händen, die er für die verschiedenen Instrumente brauchte. Hätte Danny nur etwas mehr Ehrgeiz besessen, dann wäre es jetzt nicht Niebüll, sondern Paris. Oder New Orleans.“
“Ich glaube, er hätte sich trotzdem hier begraben lassen. Musik und Malerei, Jazz und Expressionismus, im Tode vereint. Er hat sich seinen letzten Traum erfüllt. Ich finde das schön.“
„Ach, werdet doch nicht gleich sentimental. Hab ja nur gefragt. Spielen wir jetzt ‚Tilly’s Mood’, oder was?“
Sie spielten ‚Tilly’s Mood’. Danny hatte das Stück geschrieben, es war immer ihr Rausschmeißer gewesen.
Unwillkürlich machte Tom einen Schritt nach vorne, als das Wasser seine Waden umspülte. Er sah hinüber zu Alf, die Trompete kiekste. Auch Alf machte einen Schritt nach vorne, zurück Richtung Ufer. Kurtchen fiel das nicht auf, ‚Tilly’s Mood’ war sein Lieblingsstück, mit geschlossenen Augen zupfte er die Melodie, das Gesicht nach oben gewandt, als würde es von ein paar Scheinwerfern gewärmt. Die beiden anderen korrigierten den Schritt zurück, aber nur um die Hälfte.
Kurtchen stand bereits bis zu den Knien im Wasser, als er aus ‚Tilly’s Mood’ erwachte. Er sah hinunter, die Flut hatte auch seinen Kontrabass schon erreicht, trotz des Stachels, der ihn ein Stück vom Wattboden trennte.
„Hoppla.“ Kurtchen versuchte weiterhin Frohsinn zu verbreiten. „Die Flut ist da.“
„Du merkst auch alles.“ Toms Stimme klang fast zärtlich bei diesen Worten.
Alf machte ein nachdenkliches Gesicht. „Kurtchen ist ein Problem. Daran hatte ich nicht gedacht.“
„Ich bin ein Problem? Du wirst dein Problem gleich kennen lernen!“ Kurtchen schwang seinen Bogen.
„Ja, dein Instrument wird schnell unbrauchbar sein. Tom und ich können weiterspielen, bis uns das Wasser in den Mund läuft.“
Tom wurde weiß bei diesen Worten. „Ja, Kurtchen ist das Problem, und wir sollten einfach ein Stück zurück gehen, zur Küste, damit auch Kurtchen noch weiter mitspielen kann.“
Kurtchen blickte zwischen den beiden hin und her. „Könntet ihr aufhören über mich zu sprechen wie über ein Möbelstück?“ Das Wasser schwappte bis zu seinem runden Hinterteil. Er packte sein Instrument, hob es über den Kopf und stapfte los, zurück dorthin, wo sie ihre Schuhe gelassen hatten. Tom und Alf folgten. Alf viel langsamer als Tom, kopfschüttelnd.
Sie konnten kaum so rasch aus dem Wasser kommen, wie es sich weiter Richtung Strand bewegte. „Wenn mir das einer vorher gesagt hätte! Das geht ja rasend schnell mit dieser Flut. Ein halbes Leben an der See, und keine Ahnung von den Gezeiten. Unglaublich ist das.“ Kurtchen schimpfte vor sich hin, während er sich bemühte, auf dem Wattboden voranzukommen.
„Halt!“ Alf war stehen geblieben. „Was macht ihr denn? Wollt ihr etwa an den Strand zurück? Wollt ihr aufgeben? So weitermachen wie bisher? Wieder ins Heim, zu all den Alten, Kranken, Siechen?“
„Alf, wir sind auch alt. Alt und krank. Siech vielleicht noch nicht.“
„Ja, eben. Und wir wollten uns das Siechwerden ersparen. Nicht werden wie Danny. Habt ihr das vergessen?“
Bis zum Bauchnabel standen alle drei im Wasser, sahen sich an, sahen auf die Instrumente, vom Kontrabass ragten nur noch Hals und Schnecke aus dem Meer. Die Trompete war nass, das Saxophon nicht mehr zu gebrauchen.
Auf den Dünen bewegte sich etwas. Tom bemerkte es aus dem Augenwinkel. Er blickte hinüber – doch da war nichts.
„Wir hatten es Danny versprochen.“
„Aber Danny ist tot. Und er steht nicht hier. Wenn er hier stünde, wäre er schon längst um sein Leben geschwommen. Danny wollte leben.“
„Außerdem wäre sein Schlagzeug schon lange vor meinem Bass unbrauchbar geworden. Er wäre ein viel größeres Problem gewesen.“ Kurtchen war noch immer beleidigt.
Wieder eine Bewegung am Ufer. Ein Rufen. Alle drei wandten die Köpfe. Da stand jemand und winkte. Blonde Haare, ein winkender Arm in schwarzem Stoff.
Tilly.
„Sie will uns was sagen.“
Kurtchen ließ den Kontrabass los und schwamm. Das Ufer kam näher, entfernte sich wieder, Kurtchen konnte die Bewegungen des steigenden Wassers nicht einschätzen. Tom schwamm ebenfalls, jetzt warf auch Alf das Saxophon weit von sich, schleuderte es ins Meer, machte lange, kräftige Schwimmzüge, anders als der wie ein Hund paddelnde Kurt.
Tilly wurde ganz langsam größer. Endlich erreichte Alf das Ufer, gleich nach ihm Tom. Suchend blickten sie sich um. Kurtchen. Er würde es nicht schaffen. Kurz wurde ein Arm sichtbar, stieg aus den Fluten empor, verschwand wieder.
Ohne ein weiteres Wort stürzten sich die beiden alten Männer zurück ins Wasser, schwammen auf den Arm zu, der immer wieder kraftlos auftauchte, dann hatten sie Kurtchen erreicht. Sein Gesicht war weiß. Sie packten ihn unter den Armen, zerrten, zogen, schleppten ihn zum Ufer.
Mit letzter Kraft hievten sie ihn den Strand hinauf, immer weiter, bis in die Dünen, wussten nicht, ob er noch lebte.
„Er wollte es nicht! Er hat nur mir zuliebe mitgemacht! Das darf nicht passieren.“ Alf drückte auf Kurtchens Brustkorb herum, schwenkte dessen Arme, Verzweiflung stand in seinem Gesicht.
„Lass mich“, sagte Tilly, die unbemerkt herangekommen war. Mit ruhigen Bewegungen versuchte sie Kurtchen zurückzuholen.
Es gelang. Ein Schwall Wasser ergoss sich aus seinem Mund.
Alf weinte.
Lange saßen sie schweigend im Sand, die Sonne kam heraus, vertrieb den Dunst und die Wolken, wärmte sogar. Kurtchen erholte sich schnell und setzte sich auf. „Dein Glück, Alf, dass ich noch lebe. Sonst hätte ich dich umgebracht.“
Tilly stemmte die Arme in die Hüften.
“Ihr Dummköpfe! Was macht ihr denn? Wolltet euch ersäufen wie die Katzen? Was hätte Danny wohl dazu gesagt?“
„Danny wollte es so“, brachte Alf mühsam hervor. Sein weißes Haar klebte an den Schläfen.
Tom blickte ihn vorwurfsvoll an. „Danny wollte das ganz bestimmt nicht. Ich glaube, du hast da was missverstanden, Alf. Und selbst wenn er es wollte, verdammt, es ist doch mein Leben. Dein Leben. Kurtchens Leben. Unser Leben.“
Tilly streichelte Alf die Hand.
„Aber es wäre ein so würdiger Abgang gewesen. Ganz anders als der von Danny.“ Alf blickte wehmütig auf die See hinaus.
Die anderen taten es ihm nach. Dann stand Tilly auf. „Kommt. Wir gehen noch mal auf den Friedhof. Spielt ‚Tilly’s Mood’ für mich. Und für Danny.“
„Wir können ‚Tilly’s Mood’ nicht mehr spielen, Tilly. Die Instrumente schwimmen in der Nordsee.“
Tilly hängte sich an Alfs Arm. „Ich weiß, Alf. Aber ihr könnt es immer noch für mich singen.“
Sie wanderten durch die Dünen. Drei Männer und eine Frau. Die Männer waren klatschnass, trugen keine Schuhe und keine Socken. Die Sonne schien.
©Kirsten Ranft
Das ist von dir? 😲 Deine Worte, deine Gedanken?
Boah, was für eine Geschichte, ich bin beeindruckt!
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Ach, Liebelein… ❤ Ja, das ist von mir.
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Wie schön, dass du so schreiben kannst. Das gefällt mir! Du weißt ja, dass ich gerne lese 🙂
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