Machen andere Leute sowas auch?
Mit siebzehn habe ich zum ersten Mal die Deutschstunde von Siegfried Lenz gelesen und umgehend beschlossen, nach Seebüll reisen zu müssen, um die Schauplätze kennenzulernen, das Emil-Nolde-Museum zu besuchen und überhaupt ein Gefühl für diese zugige, kalte, platte Gegend zu bekommen. Nachhaltig beeindruckt hat mich das Bild des radelnden Polizisten mit Pelerine, bei Wind und Regen, der pflichtschuldigst seinem Auftrag nachkommen will, einen Maler zu kontrollieren, ob der sich an das Malverbot hält.
Was für eine Geschichte! Ein Malverbot kontrollieren! Dass Nolde, die Vorlage für den Maler, sich mit der Blut- und Boden-Ideologie der Nazis eigentlich gut arrangieren mochte, all die Hintergründe zum Buch, das soll jetzt hier nicht mein Thema sein. Ich habe einfach eine Leidenschaft dafür, Schauplätze oder Lebenswelten von Künstlern und ihren Figuren zu entdecken, beim einen mehr, beim anderen weniger.
Es dauerte dann lediglich 24 Jahre, bis ich meinen Traum verwirklichen konnte und mit Hans einen kurzen Urlaub am Nord-Ostsee-Kanal verbrachte mit dem erklärten Ziel, auch Seebüll zu besuchen.

Im Garten des Emil-Nolde-Museums, im Hintergrund das Wohnhaus.
Oder Neuruppin: vor Jahren waren wir in der Gegend und fuhren in die alte Garnisonsstadt auf den Spuren Fontanes, eines Apothekersohnes, bei dem mich interessierte, wie eine solche Herkunft sich auf solches Schreiben auswirkt. Im strömenden Regen strichen wir durch die Stadt mit ihren weiten Freiflächen, den Exerzierplätzen aus der Zeit der Preußenherrscher, und eigentlich mehr durch Zufall blieben wir tatsächlich vor der Fontane’schen Apotheke stehen. Ganz so viele Erkenntnisse wie ich erhofft hatte, konnte ich dann nicht zum besseren Verständnis seiner Figuren gewinnen; obgleich die Stadt viel von dem preußischen Flair gerettet hat, sieht die Apotheke heute eben einfach aus wie eine Apotheke. Viel nachhaltiger wirkte ein Besuch in Ribbeck, wo neben der Kirche ein winziges Birnbäumchen heranwächst, nachdem der alte Baum, der angeblich die Vorlage zu dem Gedicht bildete, vor Jahrzehnten umgestürzt war. Die karge brandenburgische Landschaft scheint gegenüber Fontanes Zeitalter wirklich unverändert.
In Prag stand ich vor dem „Turm“, dem düsteren hohen Gebäude, in dem Franz Kafka aufgewachsen war, und ich glaube, ich hätte mich auch in die Wirrnis seiner Figuren gerettet, um dem zu entfliehen. In London versuche ich immer, wenn ich dort bin, einen Gang nach Holborn zu machen, wo schon die alten Namen von Straßen und Plätzen die Welt von Charles Dickens in all ihrer Düsternis wiederaufleben lassen.
Von unserer Reise an die Loire habe ich schon an anderer Stelle berichtet; neben den herausragendsten Schlössern wie Chambord und Chinon und all den anderen waren wir auf dem kleinen Gut von Rabelais, in seinem winzigen Stübchen; wir waren auf Schloss Saché, wo Balzac viele Jahre unterkam, als er hochverschuldet und gepfändet vor der Obrigkeit fliehen musste (wer mal in die Gegend kommt: nicht die Auberge du XIIème Siècle auslassen, ein fantastisches Restaurant, in dem auch Balzac häufig gegessen hat!) – aber bisher ist es mir nicht gelungen, nach Illiers zu fahren und auf den Spuren von Proust zu wandeln, der diesen Ort in Combray umbenannt und zu einem wichtigen Schauplatz seiner Recherche gemacht hat. Dabei waren wir schon ganz in der Nähe, in Orléans, in Rouen (Flaubert lässt grüßen), in Chantilly und Versailles – aber nach Illiers oder auch zur Kathedrale von Chartres hat es nie gereicht.
Aber in den nächsten 24 Jahren ist ja auch noch Zeit, diesen Mangel auszugleichen.
Übrigens habe ich in Proust wohl einen Seelenverwandten, zumindest in dieser Hinsicht. Zwei der faszinierendsten Abschnitte seiner Suche nach der verlorenen Zeit nennen sich „Namen und Orte“, einer davon, „Namen“, ist der Schlussteil des ersten, der andere, „Orte“, der des zweiten Bandes, und er ergeht sich hier in den Bildern, die sich in der Fantasie mit bestimmten Ortsnamen verbinden, und dem Schrecken, der sich einstellt, wenn die Realität dann völlig anders aussieht, selbst wenn diese viel schöner ist als die Vorstellung – allein, dass sie so stark abweicht, hat den sensiblen Marcel regelmäßig zutiefst verstört.

Grand-Hotel Cabourg, Vorbild für Balbec
Ein toller Beitrag! Und ja, ich liebe es auch die Schauplätze von Menschen zu besuchen, für deren Leben ich mich interessiere 🙂
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