Die Ansicht von Delft

„Ich hörte, daß an diesem Tag ein Todesfall eingetreten war, der mir großen Kummer bereitete, der Tod Bergottes.

Er starb unter den folgenden Umständen: Ein verhältnismäßig leichter Anfall von Urämie war die Ursache, dass ihm Ruhe verordnet worden war. Doch ein Kritiker hatte geschrieben, dass Vermeers Ansicht von Delft (…), ein Bild, das er liebte und sehr gut zu kennen meinte, ein kleines gelbes Mauerstück (an das er sich nicht erinnerte) enthalte, das so gut gemalt sei, daß es für sich allein betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge, und Bergotte aß ein paar Kartoffeln, verließ das Haus und trat in den Ausstellungssaal. Schon auf den ersten Stufen, die er zu ersteigen hatte, wurde er von Schwindel erfaßt.

Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank dem Artikel des Kritikers zum erstenmal kleine blaugekleidete Figürchen wahrnahm, ferner, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen, gelben Mauerstücks. Das Schwindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke – wie ein Kind auf einen Schmetterling, den es gern festhalten möchte – auf das kostbare kleine Mauerstück. So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu dürr, ich hätte die Farbe in mehreren Schichten auftragen, hätte meine Sprache so kostbar machen sollen, wie dieses kleine gelbe Mauerstück es ist. Indessen entging ihm die Schwere seines Schwindelgefühls nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale das kleine so trefflich in Gelb gemalte Mauerstück enthielt. Er spürte, daß er unvorsichtigerweise das erste für das zweite hingegeben hatte. Ich möchte doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Er sprach mehrmals vor sich hin: „Kleines gelbes Mauerstück mit einem Dachvorsprung, kleines gelbes Mauerstück.“ Im gleichen Augenblick sank er auf ein Rundsofa nieder; ebenso rasch dachte er nicht mehr, daß sein Leben auf dem Spiel stehe, sondern in wiederkehrendem Optimismus beruhigte er sich: Es ist nur eine Verdauungsstörung, die Kartoffeln waren nicht ganz gar, es ist weiter nichts. Ein neuer Schlag streckte ihn nieder, er rollte vom Sofa auf den Boden, wo die hinzueilenden Besucher und Aufseher ihn umstanden. Er war tot.“

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5, Die Gefangene

Delft

Für meinen Proust-Salon habe ich das Bild nachdrucken lassen. Es ist tatsächlich wunderschön (nach Prousts Ansicht das schönste Bild der Welt). Aber kein gelbes Mauerstück. Nirgends. Dazu auch ein lesenswerter Artikel, von 1996 zwar, aber an dem Bild hat sich ja seither nichts verändert, und an den wunderbaren Texten von Proust auch nicht.